Mobilität von Menschen und Gütern neu denken

Deutschland, einig Autoland

„Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn,
vor uns liegt ein weites Tal,
die Sonne scheint mit Glitzerstrahl

Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn,
Die Fahrbahn ist ein graues Band,
weiße Streifen, grüner Rand

Fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn,
Jetzt schalten wir ja das Radio an,
aus dem Lautsprecher klingt es dann:
Wir fahr’n auf der Autobahn

Fahr´n fahr´n fahr´n auf der Autobahn …“

Kraftwerk, Studioalbum, November 1974 (1)

Nichts verkörpert die Idee von Unabhängigkeit und Freiheit so sehr wie das Auto. Mit dem eigenen Wagen unterwegs zu sein, stärkt die Wunschvorstellung von persönlicher Autonomie und sicherer Fortbewegung im geschützten Raum. Wie einem Kind, das sich entzückt fremdem Terrain nähert und sich dabei des Schutzes seiner Vertrauenspersonen gewiss ist, vermittelt dem Autofahrer heute der SUV die Sicherheit, die er sich wünscht, um sich ungezwungen ins Abenteuer des Straßenverkehrs zu stürzen.

Entflechtung städtischer Funktionsbereiche

Die Erfolgsgeschichte der privaten Kraftwagen (Pkw) wurde durch führende Architekten, Städte- und Verkehrsplaner stark befördert. Das Auto gehörte zum „Narrativ der Moderne“. 1943 veröffentlichte Le Corbusier die „Charta von Athen“ (2), die bereits beim Kongress für neues Bauen im Jahr 1933 verabschiedet worden war. Mit der grundlegenden Idee einer Entflechtung städtischer Funktionsbereiche wurde der Städtebau wurde auf das Auto als zentrales Verkehrsmittel zugeschnitten. Unter der Prämisse eine menschengerechte Stadt zu schaffen, bekam das Auto gegenüber allen anderen Verkehrsmitteln und Verkehrsteilnehmern Vorrang. Der Verkehr sollte fließen. Autobahnen, Hoch- und Fernstraßen wurden gebaut und ausgebaut. Die Innenstädte gerieten zum Transitraum für den rollenden Verkehr. Aus Freiflächen im öffentlichen und privaten Raum wurden Stellflächen für den ruhenden Verkehr in Form von Parkplätzen, Parkhäusern oder Garagen. In den 1950er und 1960er Jahren galten hohe Beförderungszahlen auch im ÖPNV (Öffentlichen Personennahverkehr) als Zeichen gesellschaftlicher Rückständigkeit (3).

Kollektive Krisenbewältigung

Inzwischen hat die Automobilbranche zahlreiche Krisen bewältigt, häufig mit staatlicher Unterstützung. Immer auch, weil volkswirtschaftliche Interessen berührt waren. Darunter die Ölkrise in den 1970er Jahren und anhaltende Unsicherheit darüber, wann das Ende der fossilen Ölvorkommen (Peak Oil) endgültig erreicht sein wird, darunter krisenhafte Entwicklungen in den OPEC-Staaten, die wiederholt zu Befürchtungen führten, dass Europa von dort nicht mehr versorgt werden kann, und darunter auch die Finanzkrise in 2008, in der die Autohersteller eine heftige Absatzkrise mithilfe der staatlich finanzierten „Abwrackprämie“ sowie Kurzarbeit überwanden. Der Pkw mit Verbrennungsmotor, in immer neue Höhen der technischen Raffinessen getrieben, galt weiter als das Non-Plus-Ultra.

Im Jahr 2018 erwirtschaftete die Automobilindustrie in Deutschland 426,2 Milliarden Euro Umsatz. 276,6 Milliarden Euro davon wurden über den Export erzielt (4). Das sind knapp 65 Prozent. Trotz der hohen Importabhängigkeit erzielt Deutschland über seine Exporte seit Jahrzehnten einen Leistungsbilanzüberschuss. Im Jahr 2018 lag dieser bei 249,1 Milliarden Euro (5). Seit 2010 sind Kraftfahrzeuge das wichtigste Exportgut. Bei Kraftwagen und Kraftwagenteilen betrug der Exportüberschuss im Jahr 2018 laut Statistischem Bundesamt 112,7 Milliarden Euro (6).

Auch in der Forschung führt die Automobilindustrie die Rangliste an. Im Jahr 2017 hat Deutschland erstmals das bereits für 2010 anvisierte Ziel erreicht, mehr als drei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Forschung und Innovationen auszugeben. Knapp 100 Milliarden Euro investierten Staat, Hochschulen und Wirtschaft. Von 69 Milliarden, die die Unternehmen einsetzten, lag der Anteil der Automobilhersteller mit Zulieferern bei stolzen 25,6 Milliarden Euro (7).

Zahl der Neuzulassungen übersteigt Geburtenzahlen

Zahlen sprechen ihre eigene Sprache: Von 3,44 Millionen Neuzulassungen im Jahr 2017 entfallen 35,6 Prozent auf Pkw (8). Das sind 1,25 Millionen Fahrzeuge. Vergleicht man die mit den 784.901 Geburten in Deutschland im gleichen Jahr, dann entfallen auf jedes Neugeborene 1,5 neuzugelassen Pkw (9).

In Deutschland zeigt sich eine innige Verbundenheit zwischen Automobilbranche, Politik und Kunden, die selbst den letzten Dieselskandal unbeschadet überstanden hat.

So lange die Käufer*innen dem Auto das Versprechen von Freiheit, Abenteuer, Selbstbestimmung und Sicherheit abnehmen, wird der notwendige Abschied vom Pkw in den Städten trotz aller Krisen, Widrigkeiten und Gesundheitsrisiken noch lange auf sich warten lassen. Viel hängt davon ab, ob Urbanität und Mobilität zukünftig anders gedacht werden können und ob wir bereit sind unseren Lebensstil infrage zu stellen sowie nachhaltig zu ändern. Positiv an der Digitalisierung ist, dass sie Chancen dafür bietet, weil sie völlig neue Mobilitätskonzepte ermöglicht.